Ein paar Tage nach dem Gespräch, an einem Sonntagmorgen, klingelt das Telefon. Es ist die Stimme von Clara Draulans: „Seit ich dir meine Geschichte erzählt habe, habe ich keine einzige Nacht noch schlafen können. Auch tagsüber habe ich dauernd diese Angstgefühle. Es ist schon Jahre her, dass es mich noch so gepackt hat. Ich würde es nie wieder tun.“

Von allen Leuten, die für dieses Buch interviewt wurden, hinterließ Clara den am meisten optimistischen Eindruck. Dennoch kann auch sie den Nachwehen dieser Greultaten nicht entkommen. „Ich erzähle es für die Jugend“, sagt sie. Clara Draulans (geb. 1920) aus Tongerlo ist eine mutige Frau. „Im Juni 1944 fing das Elend an“, beginnt sie ihre Geschichte. „Ich war 21 Monate verheiratet mit Gust Torfs. Mein Mann und ich halfen regelmäßig englischen Fallschirmjägern und russischen Grubenarbeitern unterzutauchen.

Am 23. Juni haben die Deutschen angeklopft. Mein Mann sollte mit nach­ Herentals., angeblich, um da den Täter einiger Fahrraddiebstähle zu identifizieren. Es war eine Falle. Er kam nicht mehr wieder.“ Clara erfuhr, dass Gust nach Antwerpen zu Vernehmungen gebracht worden war.

Vierzehn Tage später war sie dran. Um vier Uhr morgens drangen sie in die Wohnung. ‚Zieh dich an! Mitkommen!‘ Sie zogen die Decken vom Bett und raubten die Schränke aus.“

Clara kam sechs Wochen in eine Zelle in Einzelhaft. Danach wurde sie in einen Zug nach Deutschland gesetzt. „Auf dem Bahngleis erkannte ich einen Wächter wieder, ein Mitglied der Schwarzen Brigade (uniformierte Kollaborateure im Gegensatz zur ‚Weißen Brigade‘ =organisierte Widerstandkämpfer). Ich fragte ihn, ob nicht Gust Torfs vielleicht auch in dem Zug war. Deswegen wollte er mal nachsehen.

Das wollte er mal nachsehen. Kurz danach war er wieder da: ‚Ja, dein Mann ist in diesem Zug. Er ist gesund und möchte wissen, ob du nichts brauchst. So ein Zufall.‘ Ich bat ihn mal sehen zu dürfen. Aber nein, das war ausgeschlossen. Er war nämlich ganz hinten in einem der Viehwaggons. Die Frauen waren eingesperrt in den Fahrgastabteilen."

In Weimar, bei Buchenwald, wurden die hinteren Waggons abgehängt. Die Frauen fuhren weiter. Sie bekamen weder zu essen noch zu trinken, als Strafe, weil eine der Frauen unterwegs durchs Toilettenfenster entkommen war.

Am 12. August 1944 erreichte der Zug sein Ziel - Ravensbrück.

Clara Draulans: „Wir kamen da in einen Hexenkessel. Flöhe sprangen aus dem Brot. In unseren Kleidern wimmelte es von Läusen. Wir wurden kahl geschoren, schliefen zu sieben in einem Bett. Alles wurde geklaut: Schuhe, Kleider, Brot, alles. Wer keine Kleider mehr hatte, zog in einer Decke zum Appell.

Am Anfang ihres Aufenthaltes mussten die Frauen sich ganz ausziehen und eine lange Reihe bilden. So schlurften sie in ein angebliches Ärztezimmer. Da stand ein Tisch. Eine nach der anderen mussten sie sich rücklings auf diesen Tisch hinlegen und die Beine spreizen. Deutsche Männer schauten zu. Waren es Ärzte? Ich weiß es nicht. Sie nahmen eine Art eiserne Ahle von 20 bis 30 cm und steckten sie tief in das Geschlecht. Als ich sah, wie die erste Frau weinend und blutend von dem Tisch herunterkam, dachte ich: Sind das hier noch Menschen oder sind es Bestien? Und wenn dies der Anfang unseres Aufenthaltes ist, was steht uns hier dann noch bevor? Sie schonten niemand. Mädchen von 12, 13 wurden mit dem gleichen Eisen behandelt. Ich war bald dran, ich hatte Todesangst. aber es gab kein Entkommen. Eine Frau hat sich gewehrt. Man hat sie ins Gesicht geschlagen, bis sie fast tot war.“

Sie beißt sich auf die Lippe, wenn sie zurückdenkt an den Augenblick, wo sie auf den Tisch musste. „Das Eisen wurde gewaltsam hineingesteckt. Es hat furchtbar geschmerzt. Ob es blutete ? Ich weiß es nicht mehr. Nur der Schmerz ist mir beigeblieben. Nachher kriegte ich keine Menstruation mehr. Andere Frauen trugen Infektionen davon und hatten große Eitergeschwülste. Man kümmerte sich nicht mehr um sie.“

Ob sie keine Angst hatte, keine Kinder mehr bekommen zu können? Sie schüttelt den Kopf: „So weit ich mich erinnern kann, kam der Gedanke, mich darum zu sorgen, nicht in mir auf. Mein einziger Gedanke war, wie komme ich hier je noch weg? Hier saß eine, die weinte, da wurde geschluchzt, schließlich haben alle in der Baracke geheult. Tag ein Tag aus.“

Elf Tage blieben Clara und ihre Schicksalgenossinnen in Ravensbrück.­ Dann wurden sie per Zug zum Außenkommando Belzig geführt.

Am 24. August um 3 Uhr morgens kamen sie dort an. Am nächsten Tag wurden sie wie auf einem Sklavenmarkt verhandelt.

„Wirtschaftsleiter musterten uns wie Vieh und zeigten dann auf einige Frauen: ‚Ich will die und die ...‘ So kam ich in die Munitionsfabrik. Ich sollte leere Kugelhülsen bearbeiten. Öfter sabotierte ich die Maschine unter dem Vorwand, ich hätte zwei linke Hände. Diese Deutschen sollten bloß nicht glauben, dass ich helfen würde bei der Herstellung von Kugeln, um mein eigenes Volk damit erschießen zu lassen.“

Clara wurde einer anderen Abteilung zugeteilt. Jetzt sollte sie von 6 bis 18 Uhr Hüllen für Granaten aus Metallplatten walzen. Wenn es keine Arbeit gab, musste sie draußen im Schnee Stücke von Metallresten mit bloßen Händen abbrechen. Morgens bekamen die Frauen zum Frühstück einen Aufguss von Eicheln. Das Mittagessen bestand aus heißem Wasser mit Stückchen von Rüben und Kümmelsamen („Manchmal gab‘s nur heißes Wasser mit Kümmel.“) und das Abendbrot aus einem Achtel Brot.

Am Abend, auf ihren Pritschen, sangen die Frauen sich Mut ein mit dem „Häftlingslied von Belzig“. Clara Draulans: „Man klammerte sich fest an die Werte wie Solidarität und Religion. Jeden Abend haben wir den Rosenkranz gebetet. Und sonderbar: Alle in der Stube (die Baracke war unterteilt in verschiedene Stuben) haben mitgebetet, sogar die völlig Ungläubigen.

Da war eine verstockte Atheistin, die dann ihrerseits sang: „Und allein ist nur allein, und allein kann man nicht leben“, während sie in ihrem kurzen Kleid herumtanzte und lachte. Das war aber eine ... Die Russinnen setzten sich beim Sonnenaufgang auf ihrem Bett auf die Knie, richteten sich nach Osten und beteten zusammen. Ich weiß nicht, welche Religion die hatten, aber wir haben sie respektiert.“

Am 29. März 1945 wurde die Munitionsfabrik bombardiert. Clara wurde zusammen mit 300 anderen technisch arbeitslosen Frauen ausgeschickt, um in der Umgebung bombengeschädigte Eisenbahnschienen geradezubiegen oder, wo nötig, die Bettung wiederherzustellen. In Viehwaggons wurden sie zu dieser Arbeit gebracht. Ein Deutscher stieß Clara aus dem Waggon. Sie blieb mit dem Finger in dem Ring, an dem sie sich festgehalten hatte, hängen und verlor das oberste Glied ihres linken Ringfingers.

„Ach was, du bist nur ein Häftling“, sagte der Arzt wegwerfend und schickte sie weg mit einem Papierfetzen um die stark blutende Wunde. „Zwei Tage später war der Finger ganz vereitert“, sagte Clara, „ich war völlig unterernährt. Der Bauch war ganz dick, wie bei den hungrigen Leuten in Afrika. Mein Zustand wurde erbärmlich. Wenige Tage vor Kriegsende wurde ich ins Revier aufgenommen, in die so gefürchtete Krankenbaracke, aus der selten jemand zurückkehrte. Im Bett neben mir lag eine gute Freundin, Maria. Wir wunderten uns über den ungewöhnlichen Rummel im Lager. Es kamen immer mehr deutsche Flüchtlinge ins Lager. Das Wachpersonal war sehr aufgeregt. Es stand deutlich etwas bevor. Eine andere Freundin Adele schlüpfte drei Tage später aufgeregt ins Krankenrevier: ‚Clara, Maria, sie sagen, wir sollen auf Marsch. Soll ich, falls ich früher wieder zu Hause bin als ihr, Gust oder Louis (der Ehemann der Maria) eine Nachricht überbringen?‘ ‚Nein‘, antwortete Maria, ‚das ist nicht nötig, wir werden jetzt auch bald nach Hause gehen.“ An dieser Stelle muss Clara sich mal fassen. „Bevor Adele auf Todesmarsch ging, steckte sie mir aus Mitleid noch ein Stückchen Kartoffel zu, das sie von ihrer Hungerration gespart hatte. ‚Hier, so hast du noch etwas.‘

Dann verschwanden alle aus dem Lager, auch das Wachpersonal. Wir blieben alleine zurück. Ungefähr 15 Belgierinnen und dann noch etwa 50 Kranke anderer Staatsangehörigkeiten. Maria sagte: ‚Clara, ich habe auf einmal einen solchen Hunger.‘ Ich gab ihr meine Kartoffel, sie steckte sie sich in den Mund, biss hinein - und fiel tot um. Da war ich nun einsam, hungrig und krank. Mein Zustand verschlimmerte sich schnell. Wir konnten nicht weg, die Deutschen hatten das Tor verschlossen. Auf der anderen Seite, außerhalb unseres Lagers, waren noch einige Fremdarbeiter zurückgeblieben. Fonske, einer aus Antwerpen, zwängte sich durch den Zaun und besorgte uns ein wenig Essen. Drei Tage und Nächte haben wir darauf gewartet. Worauf? Auf den Tod, die Befreiung, die Deutschen? Wir wussten nicht, was wir denken sollten.

Inzwischen waren schon fünf kranke Frauen im Revier gestorben. Plötzlich flog die Tür auf. Der Lagerkommandant (?) und zwei Aufseherinnen kamen herein: ‚Ich schieße euch alle kaputt‘, brüllte er. Erst wurden einige von uns gezwungen, mit unseren letzten Kräften eine große Grube hinter der Küche auszugraben. Die Aufseherinnen prügelten mit der Peitsche auf unsere Rücken. Wir sollten die Kleider der Toten ausziehen, die Leichen in eine Decke wickeln und sie in die Grube werfen.

Sie waren schon einige Tage tot, und dennoch haben sie nicht gerochen. Dies ist ja auch nicht verwunderlich: Sie hatten weder Nahrung noch Medikamente im Magen. Da war kaum noch Fleisch an ihnen. Es blieb nur ein Haufen Knochen übrig. Selber wog ich kaum noch 32 Kilo.“

Drei Stufen zu viel

Ob Clara Draulans auch gute Erinnerungen an Belzig hat? Sie denkt tief nach, aber kann sich dabei nur Weihnachten 1944 vorstellen. Damals durften die Frauen bis mittags im Bett bleiben und sie bekamen sogar eine extra Brotration. „Sonst gibt es nur negative Erinnerungen“, sagt sie.

Ein Tiefpunkt war ein Appell, der morgens um 4 Uhr anfing und bis zum Mittag dauerte. Wir standen im Schnee und erstarrten vor Kälte. Keine der Frauen war nachher noch imstande, die Knie zu beugen. Mit halberfrorenen Knien schlurften wir zu unseren Baracken, da konnten wir nicht mehr weiter, denn wir sollten drei Stufen hinuntersteigen, um die Baracke zu betreten. Dafür muss man die Knie beugen. Wir haben uns dann notgedrungen fallen lassen, um so hineinrollen zu können.

Eine Stunde, nachdem wir die Leichen begraben hatten, kam plötzlich eine sowjetische Vorhut ins Lager“, erzählt Clara. Der Kommandant (?) und die Aufseherinnen wurden gefangen genommen. Deutsche, die zurückgekommen waren, wurden erschossen (?). Die Frauen jubelten. Endlich nach Monaten von Angst, Hunger und Sklavenarbeit wurden sie befreit. Weinend vor Dankbarkeit wollten sie ihren Rettern danken. Aber zu ihrer Bestürzung griffen diese sie an. Wir glaubten unseren Augen nicht.

Die Russen kehrten sich gegen uns und rannten mit lüsternen Augen hinter uns her. Wir mussten fliehen vor unseren Befreiern, die uns angriffen und vergewaltigen wollten.

Hinterher habe ich gehört, es seien Männer gewesen, die jahrelang in Gefangenschaft gewesen seien und die von den Amerikanern befreit worden waren. Jetzt wollten sie ihren unterdrückten Lüsten frönen. Einige russische Mädchen unserer Krankenbaracke retteten uns. Sie beherrschten die Sprache und redeten auf die Männer ein. Inzwischen sind wir aus dem Lager geflohen. So sind wir entkommen. Die Mädchen blieben zurück. Haben sie sich hingegeben, um uns zu retten? Wahrscheinlich ja ...“ Clara und die anderen Frauen flüchteten aus dem Lager, versteckten sich 14 Tage lang in einem Schulgebäude. Tagsüber bettelten sie um ein wenig Essen bei Bürgern. Aber viel gab es nicht. „Die Russen raubten die ganze Gegend aus. Inzwischen hatten sie entdeckt, wo wir uns aufhielten, aber sie ließen uns in Ruhe“, sagte Clara. „Eines Tages holten sie uns dann doch und setzten uns auf Lastwagen.

Wir hatten Angst, dass wir nach Sibirien kommen würden, aber die Fahrt ging Richtung Elbe. Da wurden wir den Amerikanern übergeben, über einige Umwege gelangten wir schließlich nach Belgien.“ Am 31. Mai 1945 ist Clara Draulans zu Hause angekommen. Sie wurde gefeiert wie eine Heldin in Zoerle-Parwijs, ihrem Geburtsort. Ihr Mann kam fast einen Monat später nach Hause, am 26. Juni. Auch zu seiner Heimkehr war eine ganze Menge Menschen zusammengekommen. Beide Geliebten hatten ein schreckliches Jahr in den Konzentrationslagern hinter sich.

Wie sind die ersten Augenblicke der Wiederbegegnung. Der erste Abend? Die erste Nacht? Welche Gefühle empfindet man dann? Clara Draulans: „Es hatte sich eine ganze Menge um uns versammelt. Jeder wollte den Augenblick des Wiedersehens miterleben. Aber es war, als trennte uns eine unsichtbare Mauer. So sehr ich mir auch Mühe gab, ich konnte keinen Schritt vorwärts machen. Ich stand da und starrte ihn nur an wie er mich, ohne ein Wort zu sagen, einige Meter voneinander entfernt. Meine Cousine trieb mich an. ‚Na los, geh doch zu ihm. Worauf wartest du?‘ Ich stammelte: ‚Es geht nicht, es geht wirklich nicht.‘ Er blieb wie versteinert stehen. Man hat mich dann zu ihm drängen müssen. Wir sahen uns an und er sagte: ‚Wir haben doch niemanden verraten, du.‘ Das waren seine ersten Worte. Weinend bin ich ihm in die Arme gefallen. Wir umarmten uns innig. Von dem, was dann um uns passierte, drang nichts zu uns durch. Wir weinten nur noch. Gust und ich mussten ganz neu anfangen“, fährt Clara fort. „Er war unter anderem in Buchenwald gewesen, in Dachau war er befreit worden. In den ersten Stunden hatten wir gar nicht die Zeit, über unsere Erlebnisse zu berichten. Wir wurden überrumpelt. Den ganzen Tag kamen Verwandte, Freunde und Nachbarn, um uns zu begrüßen. Wir hatten kein Bettzeug mehr, keine Wäsche, keine Kleider. Die Deutschen hatten alles mitgenommen.

Von den Nachbarn bekamen wir dann Decken, und eine Woche später wurde ein Benefiztanzabend veranstaltet, der uns 50.000 Belgische Francs (jetzt 2500 DM) einbrachte.“

Als die letzten Besucher endlich aus dem Haus waren, blieben Clara und Gust alleine zurück, sie waren 21 Monate verheiratet gewesen, dann ein Jahr getrennt. Und jetzt standen sie wieder da, allein in ihrem Haus, als ob alles wieder von vorn anfängt. Sie waren ganz aneinander verfremdet. „Ich fragte ihn, wie war es? Er antwortete: ‚Erzähl du doch erst, wie es bei euch war. Es wurde uns erzählt, dass die Frauen in den Lagern doppelte Brotrationen bekamen, jedesmal, wenn sie ihre Regel bekamen. Stimmt das?‘ Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Was hatten sie ihm da erzählt? Er sagte mir auch, er hätte zwei Briefe schreiben dürfen. Warum da nie eine Antwort gekommen wäre. Ich hatte natürlich diese Briefe nie gesehen. Wir gingen zu Bett und erzählten und erzählten, stundenlang.

Schließlich sagte er: ‚Ach schlaf doch jetzt, das Wichtigste ist, dass wir wieder zusammen zu Hause sind.‘ Ich nickte und war überglücklich. Ich konnte aber nicht einschlafen und er auch nicht. Wir fingen wieder mit dem Erzählen an. Es war ja so vieles passiert. Übrigens, ich konnte mich nicht an die Matratze gewöhnen. Ich war so daran gewöhnt, auf Holzbrettern zu schlafen. Schließlich bin ich aufgestanden. Die ersten Wochen habe ich in der Küche geschlafen, auf dem Boden unterm Tisch. Wenn Besuch für mich da war, sagte mein Mann: ‚Geht nur hin, Clara liegt unterm Tisch.‘ „ Hier hält Clara ein wenig inne. Sie lächelt, zum ersten Mal in diesem Gespräch. Ob sie ihrem Mann über alle schrecklichen Geschehnisse erzählt hat? „Nein, ich sagte ihm, das Schlimmste, das ich erlebt habe, werde ich dir nie erzählen. Er hat mich nie danach gefragt, er hat es respektiert.“

Verlangte es sie, wo sie doch jetzt wieder glücklich zusammen waren, nach Kindern? Musste sie dann aber nicht zurückdenken an die möglichen Schäden, die die Deutschen mit der Ahle angerichtet hatten? „Ja, ich hatte Angst. Ich wollte unbedingt Kinder und mein Mann auch. Aber es wollte nicht klappen. Zuerst versuchte ein Brüsseler Facharzt mittels Medikamenten die Menstruation wieder in Gang zu bringen - ohne Erfolg. Dann schickte er mich zu einem Frauenarzt in Löwen. Der gratulierte mir und meinte, ich sei seit drei Monaten schwanger. Er fügte aber unmittelbar hinzu, es würde sehr schwer werden, das Kind zu behalten. So kam es. Sieben Monate später wurde unser erstes Kind geboren. Der Arzt teilte mir mit, ich hätte große innere Wunden und beschwor uns, es bei einem Kind zu lassen. Aber wir meinten, eins ist keins, so bekamen wir noch drei Kinder dazu.“ Das Ergebnis ist eine zufriedene Familie von jetzt vier Kindern und fünf Enkelkindern. Der Opa ist inzwischen gestorben, aber die Nachkommen sind gut für Clara.

„Ich hatte den Kindern kaum über das Geschehene erzählt“, sagt sie. „Sie haben wohl danach gefragt, aber wir fanden es besser, dass sie nicht wussten, was geschehen war. Nur unserem ältesten Sohn, einem Studienrat, habe ich manches erzählt. Er will seinen Schülern deutlich zeigen, zu welchen Greueltaten ein Krieg führen kann. Manchmal besucht er mit seinen Schülern ein ehemaliges Konzentrationslager. Ich habe mich öfter gefragt, was besser wäre, schweigen oder reden. Jetzt sehe ich ein, wo sich der Rassismus wieder stark entwickelt, dass ich reden muss.“


Quelle: Schicksale, Gerhard Dorbritz, Belzig 2001