Erinnerungen von Madame Claire Paulmier geb. Blachon
aufgeschrieben im Frühjahr 1994

In der Nacht vom 13./14. August 1944 kamen wir im K Z Ravensbrück an. Nach einer zehntägigen Quarantäne wurde ich mit einer Gruppe von etwa 900 Frauen (aller Nationalitäten) für das Kommando Belzig (ROEDERHOF) bestimmt.

Nachdem man uns alle unsere eigenen Kleidungsstücke weggenommen hatte, bekamen wir: ein Hemd, eine Hose, ein Paar Holzpantoffel und ein gestreiftes Kleid, auf das wir unsere Registriernummer und ein rotes Dreieck mit einem „F" nähen mussten, damit wurde unsere Identi­tät als politischer französischer Häftling gekennzeichnet. Nun war ich nur noch eine Nummer, Nummer 51274 des Lagers Ravensbrück, später wurde sie gegen die Nummer 10032 des Lagers Belzig getauscht.

Nach unserer Ankunft in Belzig wurde unsere Gruppe von Französin­nen in den Block 3 gebracht. Mit 22 anderen Französinnen wurde ich in Raum 21 eingewiesen. In diesem Raum waren Doppelstockpritschen. Oben und unten lag je eine Deportierte, jede hatte einen Strohsack und eine Decke. Gegen Weihnachten bekamen wir eine zweite Decke.

Die Deportierten mussten in der Fabrik arbeiten. Der Arbeitsrhythmus war wie folgt: Es gab abwechselnd je eine Woche Tages- und eine Woche Nachtschicht.

Tagesschicht: Um 4 Uhr aufstehen, Arbeiten im Lager, Appell. Dann in Fünferreihen Abmarsch zur Fabrik. (Beim Verlassen des Lagers prasselten oft Schläge auf uns nieder, die uns zur Eile antreiben sollten). Auf dem Weg wurden wir von bewaffneten Soldaten, Hunden und SS-Aufseherinnen begleitet. Die Arbeit in der Fabrik dauerte 12 Stunden (von 6 bis 18 Uhr). Nach diesen 12 Stunden Arbeit ging es zurück ins Lager. Es folgte ein langer Appell, man zählte uns immer wieder. Dann wurden wir in den Block eingeschlossen. So ging es bis zum Sonnabend Abend.

Nachtschicht: Diese war viel schlimmer als die Tagesschicht. Wir hatten da weniger Ruhepausen. Aber wir wussten den Fliegeralarm (Überflug alliierter Flugzeuge) zu schätzen, denn dann wurde die Arbeit unterbrochen und wir hatten zusätzliche Pausen. Im Lager mussten wir auch manchmal am Tage arbeiten. Die Appelle waren länger, besonders am Sonntagmorgen und zu allen möglichen Zeiten. Es gab Leibesvisitationen und jeder Vorwand war genug, um uns Strafen aufzuerlegen: Es war verboten, Papier gegen die Kälte unter das Kleid zu stecken. Es war verboten, ein Stück Faden oder ein Stück Plaste zu haben. (Eine unserer Kameradinnen, Madame Gauthier, wurde aus diesem Grunde geschlagen und mit mehreren Tagen „Bunker“ bestraft.) Alles wurde als Sabotage ausgelegt. Wenn einer beim Appell schlecht wurde, bekam sie einen Eimer Wasser über den Kopf, um sie wieder aufzurich­ten.

Die Arbeit in der Fabrik war hart: 12 Stunden arbeiten, immer streng bewacht von SS-Aufseherinnen und Soldaten. Einige Zivilarbeiter waren böse. Eine hatte von ihnen einen starken Faustschlag in den Rücken bekommen und wurde beschimpft. Andererseits gab es eine ältere Frau (in Zivil), die für die Halle verantwortlich war, die freundlich zu uns war.

Ich habe zweimal von einem SS-Soldat Schläge mit dem Gewehrkolben in die Nierengegend bekommen, als wir auf dem Weg in die Fabrik waren, weil eine Kameradin gesprochen hatte.

Wir besaßen nichts, weder einen Kamm (nur für die von Nutzen, die nicht kahlgeschoren waren) noch Taschentücher. Nur ein Suppenlöffel stand uns zur Verfügung.

Verpflegung

Am Morgen bekamen wir einen undefinierbaren „Ersatz". An Wochentagen wurden täglich verteilt: Zweimal Suppe, ein Stück Brot und ein kleines Stück Margarine. Sonntags gab es nur einmal Suppe, ein Stück Brot, einen Teelöffel Marmelade, einen Teelöffel Quark und einen Teelöffel Hackfleisch. Die Suppe bestand meistens aus Kohlblättern, die im Wasser schwammen. Von November bis Anfang Januar (für Block 3 Beginn der Quarantäne) bekam die Nachtschicht zusätzlich 1/2 Liter Suppe. Anfang 1945 wurden die Rationen dann gekürzt. Wir sprachen oft untereinander über Kochrezepte, denn der Hunger quälte uns und der Gedanke an Essen ließ uns nicht los.

Kälte: Unter der Kälte haben wir schrecklich gelitten. Vor Weihnachten haben wir eine gestreifte Jacke und ein Paar Socken - ein einziges Paar für den ganzen Winter - bekommen.

Hygiene: Normalerweise gab es keine Seife. Zwei- bis dreimal gab es Gemeinschafts­duschen während des gesamten Aufenthalts in der Gefangenschaft. Wir gingen unter der Dusche durch und hielten dabei etwas Seifenpulver in der hohlen Hand. Das Wasser war entweder eiskalt oder kochendheiß. Die Unterwäsche wurde drei- oder viermal gewechselt. Das Kleid wur­de nie gewechselt, und mit dem Waschen war es schwierig: Ob das Kleid nass oder trocken war, beim Appell musste man es wieder anziehen.

Das Fehlen elementarster Versorgung: Im Oktober, als man bei meiner Kameradin Emilie Gaillard und bei mir Phlegmone festgestellt hatte, sind wir einen Tag nicht zur Fabrik gegangen. Meine Phlegmone befand sich am Fuß, und der Papierverband hielt nur einen Tag.

Vor dem Abendappell mussten wir eine Französin aus unserem Block aufrichten. Sie war sehr krank und hatte nicht aufstehen können, um zur Arbeit zu gehen. Wir mussten sie halten, während sie auf einer Bank saß, sie konnte nicht mehr ohne Hilfe sitzen. Sie röchelte. Der Lagerkommandant beschimpfte und schlug sie. Als unsere Kameradinnen von der Arbeit kamen, mussten wir sie zum Appell bringen, an dem wir teilnehmen mussten. Als sie die Stufen vom Block hinuntergehen wollte, ist sie in unseren Armen gestorben. Wir mussten sie aufrecht halten bis zum Ende des Appells.

Um in das Krankenrevier zu kommen, musste man sehr krank sein. Keiner wollte dorthin. Für viele von uns war das das Vorzimmer zum Tod. Von Zeit zu Zeit wurde das Revier geräumt, die bis dahin dort waren, fuhren mit einem „Schwarzen Transport" ab, wir wussten nicht, wohin.

Ausbruchsversuche: Anfang Herbst sind während der Nachtarbeit zwei Russinnen wegge­laufen, während wir von der Fabrik zu der Kantine gingen, wo die Suppe ausgegeben wurde. Am nächsten Tag hat uns der Kommandant beim Appell gesagt, man hätte sie gefunden und aufgehängt. Etwa zwei Tage danach wurde an beiden Seiten des Weges von der Fabrik bis zur Kantine Stacheldraht gespannt.

Später haben noch acht oder neun andere Russinnen versucht auszubrechen. Sie hatten sich eine Zange mit Gummigriff verschaffen können, um den Stacheldraht durchzuschneiden. Zweifellos wussten sie nicht, dass bei der ersten Berührung des Stacheldrahts Alarm ausgelöst wurde. Es war ein nebliger Morgen unmittelbar nach dem Aufschließen der Blocks. Wir sind beim Appell geblieben, bis sich der Nebel auflöste. Dann erst wurde der Befehl zum Abmarsch zur Fabrik gegeben. Eine dieser Russinnen lag ausgestreckt auf dem Appellplatz. Einige Tage lang haben diese Russinnen die Nächte im Bunker verbracht, sie mussten aber am Tage arbeiten und bekamen nur einmal Suppe. Später waren die meisten verschwunden.

Die SS-Aufseher

Einige Aufseherinnen sind nur kurz im Lager geblieben, andere bis zur Evakuierung. Die meisten von ihnen waren brutal, sie waren glück­lich, wenn sie uns schlagen konnten. Sie hatten sadistische Freude daran, Befehle zu brüllen und uns zu bestrafen. Einigen von ihnen hatten wir Namen gegeben: „Kommandantin“, „Schwarzer Panther“, „Ente“ und „Schnella“. Wenn man, während sie uns schlugen, die Hand schüt­zend vor sich hielt, bekam man das Doppelte. Ich habe zusehen müssen, wie die „Kommandantin“ eine Frau, die krank und völlig erschöpft war, an den Haaren aus der Reihe gezerrt hat - trotz der flehenden Blicke dieser Frau.

Der erste Kommandant war noch böser als der zweite. Vor der Abfahrt aus Ravensbrück hatte man uns Nadeln geborgt, damit wir unsere Nummern auf die Kleider nähen konnten. Wir sollten sie dann der damit beauftragten KAPO zurückgeben. Eine Nadel hat gefehlt, und die KAPO hat dann gemeldet, dass die Französinnen nicht alle Nadeln zurückgegeben haben. Beim ersten Appell in Belzig wurden die Franzö­sinnen beschimpft, der Kommandant ordnete an, dass sie eine Woche lang kein Brot bekommen sollten.

Nach Neujahr war unser Block 3 wegen Typhus in Quarantäne. Paradoxerweise hat diese 21-tägige Ruhe (wegen der Isolierung) gewiss manchen das Leben gerettet.

Im Wald in den letzten Kriegstagen

Als es wegen des nahenden Kriegsendes in der Fabrik keine Arbeit mehr gab, bin ich drei Tage hintereinander „im Wald“ gewesen. Wir waren in mehreren kleinen Gruppen an verschiedenen Orten. Ich war in einer Gruppe mit einigen Französinnen und Russinnen. Mit den SS-Aufseherinnen zusammen wurden wir in Viehwaggons transportiert. Bei der Ankunft erwarteten uns zwei Männer in Zivil, einer war mit einem Gewehr bewaffnet. Sie begleiteten uns bis zu der Stelle, wo wir arbeiteten (es war an allen drei Tagen die gleiche). Die Aufseherinnen beschäftigten uns zur reinen Schikane: Am ersten Tag sammelten wir Reisig zu einem großen Haufen. Am nächsten Tag mussten wir alles wieder verstreuen und den Haufen beseitigen. Am letzten Tag sammelten wir Papier. Gegen Mittag sind die beiden Bewacher, die immer in unserer Nähe waren, mit zwei Gefangenen Suppe holen gegangen (sicher zum Bahnhof). Am Abend haben uns diese Männer zum Zug gebracht. Wir hatten Soldaten bemerkt, die sich immer in der Nähe unserer Arbeits­stelle aufhielten. Wir dachten immer, dass wir trotz der scheinbaren Freiheit streng bewacht waren. Ein Fluchtversuch wäre der reinste Wahnsinn gewesen. Wir waren sehr abgemagert und erschöpft. Ein Pfiff hätte genügt, wir wären wieder eingefangen und getötet worden - und wir erwarteten doch jeden Tag die Befreiung.

An einem dieser drei Tage hatten wir morgens eine angenehme Überraschung: Wir sahen an einem Baum einen Fallschirm. Wir hatten aber auch Angst, der Fallschirmspringer könnte entdeckt werden.

Immer wieder habe ich mir die Frage gestellt: „Was sollte diese Arbeit von einigen Häftlingen im Wald? Welchen Grund gab es dafür?" Zu dieser Zeit hat man uns nahe am Block 3 ein großes Viereck graben lassen. Wir mussten dort Tannenzweige pflanzen, die voll junger Triebe waren. In 24 Stunden aßen wir alle diese Triebe auf. Dann mussten wir andere Arbeiten machen, z.B. den Keller unter der Küche saubermachen.

Die Evakuierung wird angeordnet

Etwa Mitte April blieben wir mehrere Tage im Block eingeschlossen. Als am 24. 4. die Tür geöffnet wurde, wurden mehrere Kameradinnen zur Arbeit eingeteilt. Es ging darum, die Toten aus dem Revier zu holen. Eine unserer Kameradinnen hatte eine Nervenkrise, als sie zurückkam. Sie hat uns erzählt: „Sie waren unbekleidet, man hat sie übereinander auf einen Karren geworfen.“

Die Verteilung von Brot und Suppe war schlecht organisiert, manche bekamen nichts ab.

Wir waren sehr aufgeregt, wir spürten, dass irgend etwas bevorsteht. Der Kommandant lief mit seinem Maschinengewehr im Lager herum.

Gegen 17 Uhr war Appell. Der KOMMANDANT sagte uns, dass die, die laufen konnten, abmarschieren. Er fügte hinzu, dass unser Leben nichts wert ist und dass alle Tage deutsche Frauen und Kinder sterben.

Der Abmarsch beginnt

Wir marschierten in Fünferreihen ab und haben uns versprochen, uns gegenseitig zu helfen. Nur dank der vier Kameradinnen, die immer um mich waren, bin ich noch am Leben. Wer nicht mehr konnte, wurde niedergeschlagen.

Wir marschierten mehrere Stunden. In einem Wald mussten wir halten, dort sollten wir die Nacht verbringen. Es war kalt, wir haben kaum geschlafen. Am nächsten Tag haben uns die SS-Aufseherin­nen, die nicht mehr so zahlreich waren, in einem Bereich, der nicht allzu sehr von Soldaten bewacht war, gelassen. Da kamen belgische Kriegsgefangene und gaben uns Schokolade. Wir hatten gehofft, dass die SS nicht wiederkommt. Aber wie groß war unsere Angst, als wir die Aufseherinnen mit der „Kommandantin" an der Spitze zurückkommen sahen. Bewaffnet mit ihren Schlagstöcken ließen sie uns der Reihe nach antreten.

Einige Stunden lang sind wir weitermarschiert. Da holte uns plötzlich ein Lastwagen ein. Es waren Kriegsgefangene, die für jeweils zwei ein Päckchen und Kaffee verteilten (unsere letzte Nahrung davor war eine Suppe am Vortag) . Der Kommandant war wütend, aber er ließ uns halten. Wir setzten uns an den Wegesrand. Während wir aßen, blieben die Kriegsgefangenen bei uns. Dann zogen sie sich zurück, aber nicht sehr weit. Der Kommandant ließ uns wieder antreten und schoss dabei. Ich war neben Claire Kummer, neben uns fiel eine Kugel ins Gras.

Kaum waren wir wieder angetreten, wurden wir durchsucht, um uns das wegzunehmen, was von den Päckchen übriggeblieben war. Die Kriegsgefangenen kamen dazu und verlangten, dass wir bis auf die Zigaretten alles behalten sollten. Das Durchsuchen hörte auf. Wie sich die Zeiten geändert hatten! Sie fühlten, dass sie verloren hatten.

Der Marsch ging weiter. Meine Beine wollten mich nicht mehr tragen, aber die Kameradinnen ließen mich nicht im Stich. Plötzlich wurde gehalten, es ging zurück, die Nacht kam. In der Nähe fuhr ein Lastwagen vorbei. das waren französische Gefangene vom Stalag XI A. Die SS war verschwunden. Wir waren nicht mehr in ihren Klauen, wir waren der Hölle entkommen. Man brachte Schafe aus einem Stall und quartierte uns dann in diesen Schafstall ein.

Wir waren in ALTENGRABOW angekommen

Das bedeutete für mich: Einige Tage blieb ich in der Schäferei, dann war ich im Revier des Stalag, versorgt von den Gefangenen bis zum 3. Mai, als die Amerikaner kamen. Bis zum 13. Mai war ich dann in Oebisfelde im Lazarett. Am 19. Mai kehrte ich über Holland und Belgien nach Frankreich zurückt.

Am 20. Mai war ich wieder in Tournon.

Claire BLACHON


Quelle: Schicksale, Gerhard Dorbritz, Belzig 2001